Lügen wir, um andere oder uns selbst zu schützen?

Wir Menschen greifen im Alltag recht häufig auf Notlügen zurück. Manche dieser Halbwahrheiten und Verschleierungen gehen aber auch weit über “nicht ganz die Wahrheit” hinaus. Was motiviert eine Person dazu, etwas hinzuzudichten, zu verändern oder wegzulassen? Gemeinsam mit Wirtschaftskriminologe und Systemischen Coach, Benni Schorn, gehe ich diesen Fragen auf den Leim. Als Herdentiere wollen wir weder Nähe, noch Zugehörigkeit missen. Und genau davor haben viele Menschen richtig dicke Angst. Deshalb wird an der Wahrheit ordentlich geschraubt und gedreht.

Was motiviert uns zum Lügen?

Was hat ein Wirtschaftskriminologe mit mir als Kommunikationscoach zu schaffen? Abgesehen von einer Freundschaft, wollen wir beide herausfinden, um was es bei unserem Gegenüber wirklich geht. Um welche Wahrheiten, Lügen und Beweggründe. Genau deshalb habe ich mir Benjamin Schorn als Wirtschaftskriminologen und Systemischen Coach ins Gespräch geholt. Vor einem knappen Jahr hat er das Institut für Governance und Psychologie gegründet. Zuvor klärte er Wirtschaftskriminalfälle auf, u.a. auch den Wirecard Skandal.

Menschen wollen bewundert werden

Benni kennt sich also gut damit aus in Befragungen, mit Tätern, Opfern und Beschuldigten, hinter den Menschen zu blicken. Dafür braucht es jedoch einen schambefreiten Raum. Andernfalls wird sich niemand öffnen. Dazu gehört auch das Eingeständnis von Fehlern, Schuld und Lügen, die die Realität verschleiern. Was bewegt uns Menschen nun aber zum Lügen? Vielleicht glauben wir, dass wir mit unseren sonstigen Geschichten nicht auf ausreichend Akzeptanz und Wertschätzung stoßen würden. Hier lässt sich eine selbst erhöhende Tendenz erkennen. Heißt konkret, wir wollen bewundert werden.

Angst vor Ablehnung und Verurteilung

Oder ein Mensch lügt, weil er Scham abwenden will. Weil er sich durch das Eingeständnis nur noch schlechter fühlen würde. Entweder aus Angst vor Ablehnung oder durch die Verurteilung der Menschen, denen er sich öffnet. Abgesehen davon, greifen viele Menschen im Alltag auf sogenannte “Noble Lies” zurück. “Liebling, steht mir der Pullover?” ist eine klassische Situation, in der häufig nicht das gesagt wird, was tatsächlich im Kopf herumschwirrt. Mit dem Ziel, die andere Person nicht zu verletzen. Was ist aber der Unterschied zwischen einer noblen Lüge und einer Notlüge?

“Noble Lies” für den guten Zweck

Tatsächlich ist die Gemeinsamkeit viel interessanter! Denn in beiden Fällen geht es häufig darum, eine gute, kooperative und sozialverträgliche Beziehung herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Fragt dich ein Kumpel nach einem Abend in der Bar, dir ist aber nach Couch zumute, könntest du erzählen, dass du heute zum Sport gehst. Klar, du könntest auch ehrlich sein und zugeben, dass du kein Bock hast. Das tun viele Menschen aber deshalb nicht, weil sie verhindern wollen, dass ihr Gegenüber dieses “Nein” falsch interpretiert. Vor diesem Interpretationsspielraum schützen wir uns und greifen deshalb auf kleinere Lügen zurück.

Lügen erzeugen unangenehme Gefühle

In der Serie Suits, gibt der Anwalt Mike Ross vor, dass er in Harvard studiert hat. Er lebt diese Lüge, sodass man annehmen könnte, dass er sie selbst gar nicht mehr für eine solche hält. Benni berichtet mir davon, dass MRT-Untersuchungen des Gehirns zeigen, dass uns beim Lügen immer wieder ungute Gefühle überkommen. Das ist gut, schließlich wollen wir in einer sozialverträglichen Welt miteinander leben. Das ausgesendete Signal des Mandelkerns (steuert Affekte und Emotionen), verliert jedoch an Intensität, umso häufiger wir lügen. Schamloses Lügen können wir uns demnach antrainieren.

Schamloses Lügen kannst du trainieren

Umso häufiger und eindringlicher Du eine Geschichte vorträgst oder hörst, desto eher glaubst Du sie. Gedanken sollen sogar einzupflanzen sein. Gruselige Vorstellung, oder? Vielleicht wurden dir Geschichten über dich erzählt, wieder und wieder, die so nie passiert sind. Umso näher dir diese Geschichtenerzähler stehen (bspw. Mama und Papa), desto eher akzeptierst du sie und schmückst sie sogar noch mit eigenen Details aus. Total absurd, aber unser Gehirn ist extrem anpassungsfähig und flexibel.

Schlechtes Gewissen durch moralische Werte

Als keine der Pseudo-Anwälte aus Harvard, gehöre ich zu dem Großteil der Menschen, bei denen Lügen und Halbwahrheiten Stress auslösen. Zum einen verstoßen wir gegen eigene Werte und haben aus moralischen Gründen ein schlechtes Gewissen. Zum anderen bedeutet permanentes Lügen eine kognitive Höchstleistung, weil ein erdachtes Konstrukt permanent aufrechterhalten werden muss. Als Wirtschaftskriminologe wird Benni immer dann stutzig, wenn in Befragungen keinerlei Strukturbrüche auftauchen.

Ist Verschweigen besser als Lügen?

Läuft eine Befragung zu flüssig, ohne Nachdenk-Pausen oder sprachliche Abzweigungen, stimmt da meist etwas nicht. Wenn wir nämlich etwas berichten, vielleicht sogar unter Druck, springen wir von A nach C, von C nach Z und von Z nach B. Neben einer klassischen Lüge, die einen vorrangig aktiven Charakter aufweist, verschweigen wir Menschen aber auch gern mal etwas. Das tun wir genau dann, wenn wir etwas verbergen oder eine Information nicht preisgeben wollen. Lügen ist dabei nicht zwangsläufig schlimmer als dem Gegenüber etwas zu verheimlichen. Vielmehr geht es darum, ob die Intention ein schadendes Element enthält.

Beeinflusst du noch oder manipulierst du schon?

“Ich hab dich nicht angelogen, ich hab es dir nur nicht erzählt”. Mh, was ist jetzt besser oder schlechter? Wenn wir jemanden beeinflussen wollen, stehen wir ihm mit Ratschlägen zur Seite. Dann legen wir all das offen, was wir wissen. Bei einer Manipulation geht es jedoch darum, einen anderen zu meinen Zwecken auszunutzen. Dann werden Informationen verschwiegen, die mich von meinem Ziel abbringen könnten.

Ausnahmefall – bedrohliche Situationen

Gibt es, abgesehen von “Noble Lies” und Notlügen, auch Umstände, in denen wir sogar lügen müssen? Benni findet “Ja!”. Das ist dann der Fall, wenn wir jemanden schützen wollen. Dabei werden wir nicht selten von dem Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit angetrieben. Immerhin hat dieses Bedürfnis am Fortbestand unserer Existenz mitgewirkt. Auch in bedrohlichen Situationen greift der Mensch auf eine Lüge zurück, um sich selbst einen Ausweg zu erschaffen.

Wen schützt du mit deiner Lüge?

Auch in Familienstrukturen gibt es häufig eine dicke Gap an Informationen zwischen verschiedenen Familienmitgliedern. Der Bruder will das Studium abbrechen, die Schwester weiß davon und soll den Eltern nichts verraten. Das tut sie, um ihn zu schützen, empfindet aber ein schlechtes Gewissen als sie danach gefragt wird und vorgibt, nichts zu wissen. Dieses Verhalten kommt natürlich nicht von ungefähr.

Fehlertoleranz trifft auf Sanktionen

Wie offen wir über Dinge sprechen, die uns unangenehm sind, die wir vielleicht sogar verbockt haben, hängt auch damit zusammen, wie wir gelernt haben, mit Fehlern umzugehen. Wollten deine Eltern, dass du stets die Wahrheit sagst, auch wenn du etwas angestellt hast? Wie sind sie dann mit dieser Informationen umgegangen? Wurdest du bestraft? Gab es Sanktionen? War dem so, hast du dich vermutlich davor gehütet, nochmal etwas Derartiges preiszugeben.

Achtsamkeit ermöglicht besonnene Entscheidungen

Gerade wenn wir unter Druck geraten, fällt es uns schwerer auf kognitive Prozesse zurückzugreifen. Gute, abgewogene Entscheidungen zu treffen, klappt dann weniger reibungslos. Das liegt auch daran, dass Drucksituationen mehr oder weniger im freien Fall auf uns einprasseln. Dann reagieren wir häufig mit Ohnmacht. Um diesem Gefühl des ausgeliefert-seins zu entgegnen, braucht es Achtsamkeit und Abstand, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wie du Achtsamkeit in deinen Alltag einbauen kannst, erfährst du hier.

Involviere deine Mitmenschen in deine Ängste

Auf dem Weg zu einem seiner Seminare, verspätete sich Bennis Taxi so krass, dass er zwei Minuten vor Beginn im Seminar erschien. Er hätte in Panik verfallen und total abgehetzt alle Materialien anbringen können. Stattdessen entschied er sich für eine offene Kommunikation und bat alle Teilnehmer um ein paar Minuten Puffer, in denen sie sich einen Kaffee holen konnten. Lass deine Mitmenschen wissen, was in dir vorgeht. Damit hinterm Berg zu halten führt eher dazu, dass du innerlich implodierst. Und auch das wirkt sich auf wiederum auf dein Umfeld aus.

Der Elefant im Raum muss angesprochen werden

Klar, für dieses teilhaben lassen braucht es Mut, Ehrlichkeit und Selbstvertrauen. Und die Kenntnis über dich selbst. Denn wie gut bist du, wenn du total unter Strom stehst? Auch im therapeutischen Kontext heißt es immer “Störung hat Vorrang”, weshalb der Elefant im Raum immer erst bearbeitet und angesprochen werden muss, bevor es inhaltlich weitergehen kann. Unbewusst gehen wir häufig davon aus, dass der andere wissen muss, was mit uns los ist. Dann sind wir sogar sauer, weil das dieser Volltrottel nicht weiß.

Dein Gegenüber weiß nur das, was du preisgibst

Die Wahrheit ist, dass wir selbst mit dieser Erwartungshaltung die Volltrottel sind. Denn wir setzen voraus, dass unser Gegenüber das Mysterium aka uns selbst zu 100 % versteht, wenn nicht mal wir selbst dazu in der Lage sind. Anders gestaltet sich das mit der Empathie und Antizipation, wenn es um Kinder geht. Insbesondere die eigenen. Wie gehe ich damit um, wenn mich mein Kind anlügt und ich genau weiß, dass es das tut?

Kinder müssen dich öffnen können

Als Vater würde Benni sich selbst erstmal befragen, weshalb das eigene Kind sich nicht zutraut, die Wahrheit zu sagen. Dafür muss es einen plausiblen Grund geben. Neben blödsinnigen Dingen, die man als Kind eben so anstellt, sollten sich Heimlichkeiten aber nicht als Gewohnheit einschleichen. Hier sollte dann abgeschätzt werden können, inwiefern es am Kind oder aber an den Eltern liegt, weshalb Fehler nicht zugegeben werden (können).

Lügen ist ein moralisches No-Go

Ob nun das Kind im eigenen Haushalt oder der Kollege auf Arbeit, kein Mensch wird gern beim Lügen ertappt. Manche Menschen igeln sich ein, senken den Kopf in die Hände. Andere verlieren sich im Rationalisieren, Ausreden und Rechtfertigen. In der Regel wissen wir, dass Lügen moralisch nicht okay ist. Und da sich die meisten Menschen für sehr integer halten und sich überdurchschnittlich moralisch positionieren, kann uns kaum etwas Schlimmeres passieren, als dabei enttarnt zu werden.

Notlügen müssen nicht immer aufgeklärt werden

Sollten wir deshalb nach jeder Lüge preisgeben, dass wir gelogen haben? Das kommt vermutlich auf die Intensität an. Liegt da eine dicke Schuld auf deinen Schultern, darfst du dich auch ent-schuldigen. Das Aufdecken kleinerer Notlügen kann wiederum mehr Schaden anrichten als, dass es nötig wäre. Du wolltest lieber netflixen, als mit deinem Kumpel in die Bar zu gehen? Dafür braucht es am nächsten Tag nicht zwangsläufig ein aufklärendes Gespräch.

Kreiere ein wertschätzendes und aufrichtiges Klima

Sofern dich deine halb wahren und falschen Aussagen und Aktionen belasten, kannst du immer abwägen, welche Kosten oder Nutzen auf dich zukommen, wenn du weiter schweigst oder dich doch noch offenbarst. Ob nun in deiner privaten oder beruflichen Umgebung, du kannst selbst dazu beitragen ein transparentes und ehrliches Klima zu schaffen. Die goldene Regel des Miteinanders besagt ja, dass “du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.”

Geh mit deiner Ehrlichkeit in Vorleistung

Besser sollte es heißen “was der Andere nicht will, dass man ihm tut, das füg ihm bitte nicht zu”. Schließlich haben wir Menschen sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Unabhängig davon, kann ich aber keine Erwartung an einen Menschen stellen, die ich selbst nicht erfülle. Möchte ich ein ehrliches Umfeld haben, muss ich selbst dazu beitragen. Es braucht dafür sogar meine Vorleistung.

Du bist nicht für die Gefühle anderer verantwortlich

Ich muss meinem Gegenüber also signalisieren, dass seine Gefühle und Bedürfnisse angenommen werden und Raum haben. Gerade im partnerschaftlichen Kontext ist das mitunter gar nicht so einfach. Vor allem dann, wenn die schlechten Gefühle meines Gegenübers Bezug auf mein Verhalten nehmen. Hier ist es besonders wichtig, nicht mit dem schlechten Gewissen des anderen zu spielen und meinen Partner für meine eigene Gefühlswelt in die Verantwortung zu ziehen.

Verzichte auf Taktik und Manipulation

Klar ist es gut, wenn sich ein Paar einander öffnet und mitteilt: “Ich habe mich so gefühlt, weil du das getan hast.” Aber es darf kein manipulatives Verhalten entstehen. Taktieren sollte kein Platz in einer erwachsenen und liebevollen Beziehung haben. Deshalb braucht es im ersten Schritt immer die Reflexion an der eigenen Person. Und im Anschluss eine transparente Kommunikation, die dem Wachtsum der Beziehung dient. Also rein in die Selbstverantwortung!

Love,
Nastasja

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